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Wie man's macht

Carolin Emcke „Wem gehört der Tod in Gaza

Für ihre Familie ist sie die Tochter, die sinnlos gestorben ist. Hamas macht aus ihr eine Märtyrerin. Ein Besuch bei den trauernden Angehörigen der palästinensischen Lehrerin Iman Hamdan

Warum sie?

Sie war nur eine unbekannte Tote. Blutverschmiert lag sie in dieser mehrstöckigen Kühltruhe. Wenige Zentimeter unter den unbeweglichen Körpern der anderen, die an diesem Tag ihr Leben verloren hatten, drei Männer und diese junge Frau. Allen hatte die Gewalt ihre Signatur eingeschrieben. Mal winzige Punkte, über das Gesicht und den Oberkörper verstreut, als ob Regentropfen durch die Haut geschlagen wären, mal tiefe Risse in der Brust und im Bauch, mal nur ein Hohlraum, als ob der Tod keine Kontur hätte. Sie hieß Iman Mohammed Hamdan, und warum es nun diese Tote war, die uns, den Fotografen Sebastian Bolesch und mich, nicht losließ, kann ich nicht sagen. Vielleicht weil wir insgeheim unterstellten, eine Frau könne nur unschuldig sein – als seien Männer prinzipiell verdächtiger, als sei ihr Tod gerechter.

Warum wir am nächsten Tag einfach vor der Tür ihres Vaters standen, noch bevor der sein Kind hatte beisetzen können? Ich weiß es nicht genau. Wir hatten eigentlich später zum Friedhof gehen wollen. Und erst danach mit den Angehörigen über den Tod Imans sprechen. Doch unser Übersetzer hatte sich durchgesetzt. Gegen die Bedenken, dass ein solcher Besuch bei der Familie zu früh sei, gegen die Überzeugung, dass jede Trauer ihre Zeit brauche, auch im Krieg, dass es respektlos sei, einfach so einzudringen in die Privatsphäre dieser Familie.

Und doch waren es letztlich genau diese zwei Stunden, die wir ungebührlich früh am Haus der Toten waren, durch die wir mehr über das Leben und Sterben in Gaza erfuhren als je zuvor:

In der Kühle des Morgens suchen die Männer ein wenig Wärme im Frühlicht vor dem Haus von Mohammed Ibrahim Hamdan. Sie sitzen an die Wand des Nachbarhauses gelehnt, auf kleinen Hockern und Stühlen, in lange Mäntel gehüllt, stumm. Was sollen sie ihm auch sagen, dem Lehrer des Viertels, der niemals sich politisch eingemischt hat. Und so sitzen sie einfach hier miteinander, einig im Trauern und doch vereinzelt, weil diesen Morgen nicht ihr, sondern Mohammed Hamdans Kind zu Grabe getragen wird.

Imans Vater sitzt da, in sich versunken, die rot-weiße Kefije um den Kopf geschlungen, in einem grauen Wollmantel, und er muss die Worte suchen, als würde erst mit dem Sprechen wahr, was alle anderen schon wissen: Gestern wurde bei einem israelischen Einsatz seine 25-jährige Tochter getötet, ihre Mutter schwer verwundet und sein jüngster Sohn verletzt.

Drinnen, hinter der grauen Mauer, die das Grundstück von Mohammed Hamdans Haus säumt, trauern die Frauen und Mädchen der Familie unter sich, sie sitzen schwerfällig auf Treppenstufen, stehen gegen die Wand gelehnt, weinend.

Mohammed Hamdan versucht nicht, uns zu überzeugen von einem Unrecht, er versucht nicht, die Schuldigen anzuklagen, er versucht auch nicht, den Tod seiner Tochter einzubetten in eine religiöse Erzählung, die das Leid symbolisch aufwerten könnte. Er scheint gar nichts mehr zu versuchen. »Ich war gestern Mittag auf dem Weg nach Hause von der Moschee, als ich die erste Explosion hörte. Ich war zehn Meter vom Haus entfernt«, Mohammed steht auf, um den Weg zu zeigen, den er gelaufen ist, Schritt für Schritt nähert er sich wieder der Eingangstür zu seinem Grundstück, das aus zwei Häusern besteht, einem für die erste Frau und ihre Töchter, einem für die zweite Frau und ihren Sohn. »Der zweite Panzerbeschuss schlug ein, bevor ich am Haus war. Ich kam zu spät.« Hamdan führt uns vorbei an den schwarzen Stelen aus trauernden Frauen im Vorgarten zu der Einschlagstelle. Sie hatten versucht, sich in Sicherheit zu bringen, doch weil der jüngste Sohn im unteren Gebäude in seinem Kinderzimmer lag, waren sie durch den Hof gerannt, um ihn zu holen.

Der schmale Weg im Hof ist mit Splittern übersät, es klebt geronnenes Blut an dem Mauervorsprung. Im Haus selbst ist die Zeit stehen geblieben: Neben der dünnen Matratze liegen eine braune Gummikuh und zwei Plastikschafe, einsam und fast ein wenig beleidigt, dass niemand mehr mit ihnen spielt. Die Spüle in der Küche ist von der Druckwelle der Explosion aus der Wand gerissen wordem. Auf dem Herd stehen, noch unberührt, gekochte Auberginen unter einem staubigen Film aus Tod und Zerstörung.

»Wir sind Lehrer«, sagt Mohammed Hamdan, »auch Iman war Lehrerin an der Grundschule«, er streicht seiner zweiten Tochter Fida übers Haar und fügt dann noch hinzu: »Für Mathematik.« An den Kämpfen der Milizen hatten sie sich nie beteiligt. Nicht an denen von Hamas, nicht an denen von Fatah. Und auch nicht an denen, die beide Gruppen untereinander ausfochten. Wenn die israelischen Einsatzkommandos nach Gaza eindrangen, um gegen die palästinensischen Radikalen vorzugehen, konnten sie nicht gemeint sein.

»Sie war so fröhlich«, sagt Fida mit kaum hörbarer Stimme. Bei jedem Laut, den sie von sich geben will, rasselt es. Sie studiere Wirtschaft, erzählt sie, doch selbst wenn sie etwas Beiläufiges zu erzählen versucht, zieht sich dieses röchelnde Geräusch wie ein lästiger Fluch durch ihre Rede. Seit einem früheren Raketenangriff ist ihre Stimme beschädigt. Das Trauma des Krieges hat seinen eigenen Ton gefunden und sich in ihr festgesetzt. Sie legt sich mit stummen Tränen ihrem Vater in den Arm, als plötzlich draußen vor dem Haus ein weißer Pick-up vorfährt. Keiner beachtet den Fahrer, der flugs auf die Ladefläche klettert und sich dort zwischen meterhohen Boxen an ein Mischpult stellt, und schon hallen sie in ohrenbetäubender Lautstärke durch die Stille: Märtyrerlieder. »Shuhada«, so feiern es die dramatischen Lieder des mobilen DJ, sind jene Gläubigen, die ihr Leben opfern.

War sie das? Eine Märtyrerin?

Die Kinder, die um den Lastwagen zusammenströmen, wissen sie, was die Tradition über das Martyrium sagt? Ist das überhaupt wichtig, den vergangenen Ursprung einer gegenwärtigen Praxis zu kennen? In der zweiten Sure des Korans, im Vers 282, gilt als shahid zunächst ein »Zeuge« im wörtlichen Sinn. Muslimische Gelehrte verweisen darauf, dass in einer Reihe von Versen shuhada auch Märtyrer bedeutet, wie in Sure 3, Vers 140: »Damit Allah alle die Gläubigen kennt und sich aus euch Märtyrer erwählt.«

Vorne vor dem Haus marschiert nun auf einmal eine Garde Halbwüchsiger in grünen Camouflage-Uniformen auf, mit Kapuzen über dem Kopf, nur durch die Löcher der Masken lassen sich die huschenden Blicke der pubertierenden Jungen erkennen. Unter der Anweisung eines Funktionärs postieren sich die Anstreicher vor Mohammed Hamdans Haus: Zu zweit schleppen sie die offenen Eimer mit weißer Farbe. Auf Zuruf beginnen sie, mit den langen Stöcken die Masse zu rühren, vor lauter Nervosität etwas zu schnell, und dann pinseln sie die graue Außenmauer des Grundstücks weiß. Auf und ab. Auf und ab, etwas wässrig sieht das aus, etwas hilflos auch.

Mohammed Hamdan und die Männer im Halbkreis der Morgensonne schauen teilnahmslos zu. In Mohammed Hamdans Gesicht lässt sich nichts lesen: kein Trost, kein Stolz. Regungslos sitzt er da. Unbeweglich. Als ginge ihn dieses Ritual der Märtyrerverehrung nichts an. Als wäre das nicht sein Kind, für das diese anderen Kinder da pinseln. Als wüsste er genau, dass er hier gerade enteignet wird, dass ihm nicht die Trauer um sein Kind abgenommen wird, aber die Deutung, dass sie eingemeindet wird in eine öffentliche Rhetorik des Widerstands, die stolz machen soll, und dass seine Verzagtheit keinen Ort mehr darin hat.

Nun ist die Wand geweißt, noch immer dröhnt im Hintergrund der DJ mit seiner Märtyrermusik, als der nächste Hamas-Abgesandte mit einer Spraydose den Kondolenzgruß für die Märtyrerin auf die Mauer sprüht. Sie mochte kampflos gestorben sein, aber sie soll gefeiert werden als eine Kämpferin des Glaubens, shuhada al-ma’raka, so heißen traditionell jene Märtyrer, die auf dem Schlachtfeld sterben, und sie unterscheiden sich von den anderen Typen von Märtyrern, deren frühzeitiger Tod auf andere Art und Weise als Zeugnis des Glaubens gedeutet werden kann: jenen, die sterben im Dienste Allahs, die fern von ihrer Heimat sterben, die bei Unfällen sterben. Die Liste der in der sunnitischen oder schiitischen Tradition verehrten Tode ist lang.

Aber haben diese Typologien des Todes nicht eines gemeinsam? Dass ein Mensch sich geopfert hat? Freiwillig das Leben gegeben hat, im Kampf oder kampflos, für den Glauben sich hingegeben hat?

Sicher, es gibt auch in den Hadithen jene Personen, die sterben durch Ertrinken, Koliken oder eine Plage und die zu Märtyrern erklärt werden.

Als Kompensation für einen besonders qualvollen Tod.

Inzwischen haben die Helfer von Hamas Stuhlreihen die Straße entlang aufgestellt, ein Baldachin säumt die Querstraße, damit alle, die den Tod Imans betrauern oder befeiern wollen, auch Platz finden.

Als Kompensation für einen besonders sinnlosen Tod? Wäre das nicht ehrlicher? Gar nicht erst vom Martyrium zu singen, sondern das anzuklagen, was er war: ein unnützer, sinnloser Tod eines jungen, unbewaffneten Menschen.

Sagt der Koran auch etwas über einen ungerechten Tod?

Iman Hamdan war nicht für ihren Glauben gestorben, sie war auch nicht für ihre Familie oder ihre Schule, sie war gar nicht für etwas gestorben. Sie war schlicht und ergreifend ziviles Opfer eines Angriffs geworden.

Daran kann auch die grüne Fahne nichts ändern, die Farben von Hamas, in die gewickelt der Leichnam nun aus der Ambulanz getragen wird, um den Kopf noch ein blutiges Tuch. Über den Schultern der Träger schaukelt die Bahre mit dem schmalen eingewickelten Körper ins Haus hinein, begleitet von dem Aufheulen der Frauen, wie eine Welle schlagen die Schreie im Treppenhaus ans Nichts. Wer sollte auch antworten auf die Klagen der Frauen? Nicht einmal fünf Minuten bleiben ihnen, um Abschied zu nehmen von ihrer Nichte, Cousine und Schwester. Sie schluchzen und recken die Hände und lassen sich nicht zurückhalten von den breitschultrigen Männern, die für Ordnung sorgen sollen, damit der Leichnam zügig wieder weg, auf den Weg zur Moschee gebracht werden kann.

Während Imans toter Körper im Schatten eines Seitenraums der Moschee am Boden ruht, marschieren draußen die Fußtruppen von Hamas auf: Maskierte Fahnenträger jeden Alters sollen Spalier stehen, um den Auszug der Märtyrerin zu ehren und im Laufschritt zum Friedhof zu begleiten. Die jüngeren tragen Holzstöcke anstelle von Gewehren und proben das Erwachsensein. Die älteren, in grüner oder schwarzer Kampfkleidung, Fahne und Gewehr geschultert, in geübter Inszenierung des Todes als Quelle des Stolzes.

Glauben sie das wirklich? Ist ihnen der Tod so vertraut geworden, dass sie sich nicht mehr fürchten? Oder sind die Verluste so groß, dass sie es nicht zugeben können, die eigene Schwäche? Müssen sie deswegen das tägliche Sterben als Zeichen des Muts ausweisen anstatt als Zeichen der Demütigung? Warum nur ist es ihnen erträglicher, zu behaupten, Iman sei einen bewussten Heldentod gestorben, als anzuklagen, dass sie ein zufälliges Opfer war? Warum ist ihnen eine stolze Lüge lieber als die traurige Wahrheit?

Als Iman schließlich hinaus getragen wird, ist der Trauerzug längst in eine Demonstration verwandelt worden: Mit Gewehrsalven und Gebrüll wird der Leichnam durch die Straße getragen wie eine Trophäe.

Das sind sie nun, die Bilder, auf die wir Journalisten immer warten, diese Szenen der Kämpfer mit ihren hochgereckten Waffen, ihren Spruchbändern über der Stirn, diese Bilder, die uns in Angst und Schrecken versetzen und die uns doch beruhigen, weil sie dem Bild entsprechen, das wir uns schon gemacht haben, bevor das Bild eigentlich entstanden ist: diese Szenen, bei denen wir nicht einmal mehr sagen können, ob wir sie darstellen, weil sie eben der Wirklichkeit entsprechen, weil der Tod hier nun mal gefeiert wird – oder ob sie den Tod feiern, weil wir sie mit unseren Kameras und Fotoapparaten dann für beachtenswert halten.

Am Ende, als die Fahnenträger auf Podesten rund um das Grab verharren, da stehen sie alle herum: die Milizen mit ihren Waffen, die jungen Anwärter auf eine wichtigere Arbeit mit ihren Kapuzen, die zornigen Männer des Flüchtlingslagers, diejenigen, die Flüche auf Israel von sich geben, diejenigen, die Gewehrsalven abfeuern, sie alle stehen um das dunkle Loch herum, in das Imans Körper hinabgesenkt wird, den Kopf gen Mekka. Nur Mohammad Hamdan ist nirgends zu sehen. Seine Trauer hat hier nichts mehr zu suchen.

Und auf einmal tut sich diese Untiefe auf, dieser Spalt zwischen der öffentlichen Darstellung einer organisierten Heldenverehrung und der privaten Trauer um ein getötetes Kind. Diese Untiefe maß jene zwei Stunden, die wir zu früh am Haus von Iman Hamdan gewesen waren. Hätte unser Übersetzer nicht insistiert – wir wären nur zur Beerdigung gegangen, wir hätten nur die politische Demonstration der Hamas erlebt, die sich den Tod Imans einfach einverleibt hatte.

Vielleicht weil am Vortag keiner der Ihren gestorben war. Vielleicht weil die drei anderen Toten aus der Leichenhalle alle von Fatah zu Grabe getragen wurden. Vielleicht weil Hamas einfach eine Tote gebraucht hatte, die ihrer Selbstinszenierung im bitteren Zwist mit Fatah dienen konnte.

Vielleicht ist das ungerecht. Was wissen wir schon? Welche Geschichten würden wir erfinden, um die Sinnlosigkeit des Sterbens zu ertragen?

Ich weiß nur, die Trauer ist leise in Gaza wie überall sonst auch. Hinter den schrillen Bildern, die wir produzieren, weil sie produziert werden, hinter all den martialischen Postern und Aufmärschen trauern Väter und Schwestern und bleiben ohne Trost. Sie ergeben ein anderes Bild vom Tod in Gaza, einem Tod, der keinen Sinn macht, der keine triumphale Geste erlaubt.

Warum sie?

Weil Iman Hamdan eine Tote wie viele andere war. Eine, deren Tod zu betrauern, nicht zu befeiern war.

Und weil wir es beinahe missverstanden hätten.

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Carolin Emcke


Carolin Emcke, geboren 1967, studierte Philosophie, Politik und Geschichte in London, Frankfurt am Main und Harvard; Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes; Promotion in Philosophie über den Begriff "Kollektiver Identitäten", von 1998 - 2006 war sie Redakteurin beim "Spiegel" und als Auslandsredakteurin in vielen Krisengebieten (Afghanistan, Pakistan, Kosovo, Iraq, Kolumbien, Libanon u.a.) unterwegs. 2003/2004 war Carolin Emcke Visiting Lecturer für Politische Theorie an der Yale University, seit 2007 arbeitet Carolin Emcke als Publizistin und internationale Reporterin (in u.a. Naher Osten und USA). Preise: "Das politische Buch" der Friedrich-Ebert-Stiftung (2005); "Förderpreis des Ernst-Bloch-Preises" (2006); "Theodor Wolff-Preis" (2008). Carolin Emcke lebt in Berlin.
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Dokumente
Wem gehört der Tod in Gaza? (PDF)

erschienen in:
Die ZEIT,
am 09.10.2008

 

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